Merle und Morle

von Dirk Hoffmann

Die Geschichte von Merle und Morle begann an einem kalten Abend im ausgehenden November. Merle war vor wenigen Tagen elf Jahre alt geworden. Sie sah aus dem Fenster und betrachtete den starken Regen, der vom Himmel stürzte. Alles war nass, die Straße vor dem Haus erinnerte an einen Fluss. Große Tropfen schlugen gegen die Scheibe, dass es nur so knallte. Gerne hätte Merle draußen gespielt, aber das Unwetter ließ es auf keinen Fall zu. Seufzend schaute das Mädchen auf die Straße. Die wenigen Blumen, die es im Mutters Vorgarten noch gab, ließen die Köpfe hängen. Noch vor wenigen Wochen hatte dort alles prächtig geblüht. Jetzt sahen die Beete trostlos aus.
Bewegt sich da zwischen den traurigen Blumenresten nicht etwas? Merle war sich sicher, einen kleinen weißen Kopf mit leuchtend blauen Augen gesehen zu haben. Da ist jemand hilflos dem Regen ausgeliefert, dachte sie. Wer immer das auch war, musste unbedingt gerettet werden. Schnell kramte sie ihren Regenmantel aus dem Schrank, schob ihre Füße in die Gummistiefel und stürmte aus dem Haus. „Merle, wo willst du hin?", rief ihr die Mutter hinterher, was diese gar nicht wahrnahm. Der Regen traf Merle mit voller Wucht. Den Wassermengen trotzend rannte das Mädchen in den Vorgarten. Ihre Augen durchsuchten Blumen und Sträucher in der Hoffnung, das unbekannte Gesicht schnellstmöglich wiederzufinden. Aber da war nichts mehr. Hatte sie sich alles eingebildet? 
Den Tränen nahe starrte Merle auf die Stelle, von der aus das Gesicht mit den leuchtend blauen Augen noch vor wenigen Minuten zu ihr hinauf sah. Einen Hauch des Blütenduftes, den die Blumen im Sommer versprühten, glaubte Merle immer noch zu riechen. Aber in erster Linie interessierte sie, wo das Wesen geblieben war, dem das Gesicht gehörte. Allmählich konnte sie ihre Tränen nicht mehr aufhalten. Merle weinte bitterlich. Erst als sie plötzlich ein Wimmern hörte, ließen die Tränen nach. Sie verspürte einen leichten Druck an ihrem Unterschenkel. An sich hinunterblickend bemerkte sie ein kleines weißes Kätzchen, das seinen Kopf an ihr Bein gelegt hatte. Mit leuchtend blauen Augen blickte es zu Merle hinauf. Das musste das Wesen sein. 
„Hallo", grüßte das Mädchen leise, „wer bist du denn?" „Miau", gab das kleine Wesen zur Antwort und rieb weiter genüsslich den Kopf am Bein des Mädchens.
Der Regen ließ langsam nach. Merle überlegte, ob sie es wagen konnte, das Kätzchen ins Haus zu schmuggeln. Es war bestimmt hungrig. 
„Erst einmal brauchst du einen Namen", erklärte sie, während sie das Kätzchen streichelte, „was hältst du davon wenn ich dich Morle nenne? Ja, Merle und Morle, das klingt gut!" In diesem Moment lief das Kätzchen davon. Wo wollte sie denn jetzt wieder hin? Merle fühlte, wie sie erneut in Tränen ausbrach. „Morle", rief Merle ins Dunkel, „Morle, wo bist du?" 

Das Kätzchen ließ sich nicht mehr blicken. Traurig schlurfte Merle ins Haus zurück, wo die Mutter mit dem Abendessen wartete. Im selben Moment kehrte auch der Vater von der Arbeit heim. „Hallo Merle", grüßte er. Merle schlang ihre Arme um ihren Vater und schluchzte. 
„Was ist los mein Kind", fragte der Vater bestürzt, „warum weinst du?" 
„Ich weiß auch nicht, ist schon wieder gut", erklärte Merle und wischte sich mit dem Jackenärmel durchs Gesicht. 
„Na gut, du wirst es uns schon sagen, wenn du es willst", nahm der Vater die unerwartete Reaktion hin. 
„Paul, schön, dass du da bist", grüßte die Mutter und gab ihrem Mann einen Kuss auf die Wange. 
„Hi Vera", entgegnete dieser. 
„Unsere Kleine ist heute in etwas merkwürdiger Stimmung", mutmaßte die Frau, „ich denke, das legt sich wieder. Lasst uns essen.“ 
Merle saß inzwischen am Tisch. Sie hatte sich beruhigt und überlegte, ob sie ihren Eltern von dem Kätzchen erzählen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Die Eltern stellten ihrerseits keine Fragen. Alle aßen still die von der Mutter zubereiteten Spaghetti mit Bolognesesauce. 


In der folgenden Nacht fiel es Merle schwer einzuschlafen. Immerfort dachte sie an die kleine Katze. Wo mochte sie nur hin verschwunden sein? Schließlich kam die Stunde, in der die Müdigkeit siegte. Merle fiel in einen unruhigen Schlaf. Bald fand sie sich in einem Tannenwald. Überall um sie herum wuchsen riesige Tannenbäume. Wie war sie hier hergekommen? Was machte sie an diesem Ort? Das Mädchen blickte sich verwirrt um. 
„Hallo", rief sie in den Wald hinein, „ist da jemand?" 
Nur ihre eigene Stimme hallte als Echo zurück. 
Plötzlich entdeckte Merle etwas. Waren da nicht zwei kleine blaue Punkte zwischen den Tannen? Sofort rannte sie auf die Punkte zu. Da saß ihr Kätzchen und putzte sich das Fell. 
„Morle, hab ich dich gefunden", stellte Merle glücklich fest. 
„Hallo Merle", sprach das Kätzchen sanft, „ich freue mich, dass du in meinen Wald gekommen bist". 
Merle erschrak ein wenig. Wieso konnte Merle mit ihr sprechen? 
„Sei beruhigt", fuhr Morle fort, „an diesem Ort ist alles möglich. Du bist im Weihnachtswald". 
Merle kitzelte etwas im Gesicht. Offensichtlich eine Schneeflocke. Es hatte begonnen zu schneien. Schnell bekam der ganze Wald einen weißen Farbanstrich. 
„Morle, es schneit", rief Merle verzückt, „bist du wirklich die Katze, die gestern vor unserem Haus gewesen ist?" 

„Merle, aufstehen, du musst zur Schule", erklang auf einmal eine ganz andere Stimme. Es war ihre Mutter. Merle lag wieder in ihrem Bett. Morle und der Weihnachtswald waren fort. Sie hatte ihr Kätzchen ein weiteres Mal verloren. 

Auf dem Schulweg blickte Merle immer wieder nach links und nach rechts. Schließlich konnte Morle ja überall in der Umgebung sein. Aber es zeigten sich nirgendwo irgendwelche Katzen. Das einzige Tier, das ihr begegnete, war der Schäferhund des Schulhausmeisters. Sie mochte ihn, aber er war nicht Morle. 
Im Unterricht fiel es Merle schwer sich zu konzentrieren. Sie sah immer nur Morle vor sich. Das änderte sich auch in den nächsten Tagen nicht. 
Schweren Herzens versuchte Merle nach einer Woche vergeblicher Suche ihre Morle zu vergessen. Sie hatte wirklich überall gesucht. Aber Morle tauchte einfach nicht mehr auf. 


Der Nikolaustag war schließlich nah herangerückt. Normalerweise war Merle immer aufgeregt, wenn sie am Vorabend ihre Stiefel vor der Tür aufstellte, was ihr der Nikolaus hineinstecken würde. In diesem Jahr wünschte sie sich nur ihre Morle zurück. 

Am Nikolausmorgen sah sie trotzdem nach, was ihre Stiefel beherbergten. Merle fand einen Schokonikolaus, ein paar Walnüsse, Schokoladengoldtaler und eine kleine weiße Katze mit blauen Augen und einer Nikolausmütze. Sie passte in ihre Hand und bestand aus Kunststoff. Eine Deko-Katze. Dennoch erinnerte sie stark an Morle. Wäre es doch die echte Morle gewesen. 

Mit der Deko-Katze im Arm schlief Merle am späten Abend unter Tränen ein. Weniger später stand sie in einem verschneiten Wald. Der Tannenwald. Merle erkannte den Weihnachtswald sofort wieder. Sie war wieder bei Morle. Wie lange hatte sie darauf gewartet! 
„Morle", rief Merle fröhlich, "Morle, bist du hier?" 
Es rührte sich nichts. Alles blieb still. 
"Na gut", sagte Merle, „ich warte auf dich“. 
Das Mädchen war fest entschlossen, nicht fortzugehen bevor sie Morle sehen würde. 
Um sich die Zeit zu vertreiben, begann Merle einen Schneemann zu bauen. Als schließlich ein prächtiger Riese aus Schnee vor ihr stand, war sie immer noch allein. Warum zeigte Morle sich nicht? Wo war diese Katze nur? Mochte Morle sie nicht? 
„Ein schicker Schneeonkel“, erklang endlich eine sanfte Stimme, „hallo Merle“. 
„Morle“, erwiderte Merle, „kommst du doch noch. Ich freue mich so!“ 
„Ich freue mich auch dich zu sehen“, schnurrte Morle. 
Merle schlang ihre Arme um Morle. Sie war einfach nur glücklich. 
„Du schuldest mir noch eine Antwort“, sagte Merle schließlich, „bist du die Katze, die ich vor unserem Haus gesehen habe?“ 
„Vielleicht war ich es, vielleicht auch nicht“, antwortete Morle. 
Mit so einer Antwort hatte Merle nicht gerechnet. 
„Ich weiß nicht, wo ich überall schon war“, fuhr Morle fort, „ich weiß nur, ich bin die Weihnachtskatze. Manchmal bekomme ich den Auftrag, mich in der Weihnachtszeit um ein Kind zu kümmern. Es ist also möglich, dass ich vor deinem Haus gewesen bin“. 
„Du meinst, du kümmerst dich um mich“, wollte Merle wissen.“ 
„Ja, es ist einfach so. Und ich mache es gern“. 
Mehr konnte Merle nicht von Morle erfahren. In diesem Moment wachte sie auf. Ab diesem Tag war Merle wieder fröhlicher. Sie war nun sicher, dass sie Morle wieder sehen würde, wenn diese es wollte. 


Die Tage bis Weihnachten flogen nur so dahin. Merle dachte weniger an Morle. In der Schule kam sie nun besser zurecht. Außerdem freute sie sich mit ihrer Mutter Plätzchen zu backen und die Wohnung nach und nach immer weihnachtlicher zu schmücken. Bald vergaß sie Morle tatsächlich ein wenig. Aber nicht komplett. Die Deko-Katze, die ihren Platz auf Merles Schreibtisch gefunden hatte, erinnerte sie hin und wieder an Morle. 

ONsüd-Montage: S. Pokojski
Plötzlich war der Weihnachtsabend da. Merle schmückte eifrig gemeinsam mit ihrer Mutter den
Weihnachtsbaum. In der Küche schmorte die Weihnachtspute und verbreitete leckeren Duft. Aus dem Radio erklangen Weihnachtslieder, die Merle und ihre Mutter fröhlich mitsangen. Als der Baum fertig war, schickte die Mutter Merle auf ihr Zimmer. Erst wenn aus dem Wohnzimmer eine Glocke zu hören war, durfte sie ihr Zimmer wieder verlassen. Nachdenklich blickte Merle auf ihre Deko-Katze. 
„Wo auch immer du jetzt bist, Morle, ich wünsche dir ein schönes Weihnachtsfest“, sagte Merle und war sich sicher, dass Morle es hören würde. 
Schon bald erklang die Glocke. Merle stürzte aus ihrem Zimmer und stieß mit dem Vater zusammen,  der gerade in die Wohnung gekommen war. 
„Hoppla, nicht so stürmisch“, sagte er. 
„Entschuldige Papa“, erwiderte Merle, „es tut mir leid“. 
„Ist schon in Ordnung Kind, ist ja nichts passiert. Du hast nur die Kleine erschreckt“. 
„Was, welche Kleine“, fragte Merle. 
„Ich habe sie eben vor der Tür gefunden“, erklärte der Vater, „total verfroren und sicher hungrig. Hast du Lust dich um sie zu kümmern?“. 
Der Vater reichte Merle ein kleines weißes Kätzchen mit leuchtend blauen Augen. 
„Morle“, stellte Merle glücklich fest. 
„Wie bitte?“, fragte der Vater verwirrt. 
„Ach, die Kleine erinnert mich nur an jemanden“, gab Merle zur Antwort. 
Merle wollte in diesem Moment gar nicht mehr wissen, was sie sonst noch bekommen würde. Sie war einfach nur glücklich ihre Morle in die Arme schließen zu können. Noch schöner war, dass die Eltern entschieden, dass Morle bleiben durfte. 
Merle und Morle durften von diesem Tag an zusammenbleiben. Nie zuvor war Merle an Weihnachten so glücklich und sie war sicher, dass Morle es auch war. 

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