Manuel, der kleine Schutzengel 

Eine Geschichte von

Dirk Hoffmann

9. Kapitel
Iris

Die Zeit verging. Inzwischen lebten Manuel und Johanna fast schon eine Woche auf der Erde. Mit Ingo über seinen Kummer zu sprechen wurde nicht einfacher. Die angehenden Schutzengel führten abwechselnd in den Pausen Gespräche mit vielen Schülern. Einige waren sehr unfreundlich, aber die meisten waren sehr nett. Warum wollte bloß niemand etwas mit Ingo zu tun haben? Sie selbst mochten den Außenseiter inzwischen wirklich gern.
„Vielleicht sollten wir den einen oder anderen, der nicht so krass gegen Ingo eingestellt ist nachmittags einmal mitnehmen“, schlug Manuel eines Morgens vor, „nach der Schule, wenn nicht alle da sind, erzählen sie vielleicht mehr“.
„Ja, das können wir versuchen“, stimmte Johanna zu, „wir müssen wenigstens ein paar Schüler davon überzeugen, dass Ingo ein echt netter Junge ist, mit dem man eine Menge Spaß haben kann“.
An diesem Tag wartete die Deutschstunde auf sie, in der Goethes Erlkönig zitiert werden sollte. Manuel und Johanna erinnerten sich daran, wie sie Ingo im großen Herz zum ersten Mal gesehen hatten. Sie fragten sich, ob er das Gedicht wohl inzwischen aufsagen konnte.
„Hallo zusammen“, grüßte Frau Börnke als sie das Klassenzimmer betrat.
„Hallo Frau Börnke“, grüßte die komplette Klasse zurück.
„Ich hoffe es ist euch mit dem Erlkönig nicht zu schwer gefallen“, fuhr die Lehrerin fort, „wer von euch macht den Anfang? Die beiden Neuen sind natürlich erst einmal ausgenommen“.
„Ich kann das“, rief Johanna aufgeregt und zitierte die erste Strophe.
„Angeberin“, hörte Manuel sich flüstern und hielt sich beschämt den Mund zu.
„Sehr gut“, stellte Frau Börnke fest, wer ist der Nächste? Stefan, wie wäre es mit dir?“
Der Angesprochene brachte es stotternd hinter sich. Alle taten sich schwer. Nur einer schaffte es ohne Fehler, das war ausgerechnet Ingo.
„Super Ingo“, platzte Johanna heraus, die fest an ihn geglaubt hatte.
„Streber“, riefen sie in der hinteren Reihe.
„Warum habt ihr das bei mir nicht gerufen?“, schimpfte Johanna.
„Jetzt lasst Ingo doch endlich in Ruhe“, fügte Manuel wütend hinzu.
„Ruhe bitte“, forderte Frau Börnke mit so lauter Stimme, dass sie alle übertönte, „im Gegensatz zu euch dahinten hat Ingo offensichtlich geübt“.
Kurz darauf läutete die Schulglocke das Ende der Deutschstunde ein. Der folgende Geschichtsunterricht verlief ohne besondere Vorkommnisse. Ein letzter Versuch von Manuel mit einem Jungen aus der Nachbarklasse zu sprechen brachte keine neuen Einsichten. Ingo verabschiedete sich an diesem Tag direkt nach Schulschluss, er war mit seiner Mutter zur Geburtstagsfeier seines Onkels eingeladen.
„Wollen wie nach Hause gehen?“, wollte Manuel gerade fragen als ein blondes Mädchen zu ihnen trat, das den Engeln bisher noch nicht aufgefallen war.
„Hey, ich bin Iris“, stellte sich das Mädchen vor, „ich würde gerne kurz mit euch reden“.
„Worüber denn?“, wollte Johanna wissen.
„Ihr seid doch die beiden, die überall nachfragen, warum dieser Ingo so unbeliebt ist oder täusche ich mich?“
„Nein, du täuscht dich nicht“, stellte Manuel fest nachdem er mit Johanna einen Blick gewechselt hatte.
„Ich gehe in die Nachbarklasse“, erklärte Iris, „was in eurer Klasse geschieht kann ich natürlich weniger sehen, aber auf dem Schulhof habe ich vieles beobachtet. Darüber hinaus war Ingo einmal mein Freund“.
„Und jetzt ist er nicht mehr dein Freund?“, fragte Johanna ungläubig.
Iris sah verlegen zur Seite und knibbelte an ihren Fingernägeln.
„ich habe die Gemeinheiten der anderen Schüler nicht mehr ausgehalten“, gestand sie mit leiser Stimme ein.
„Heißt das, du hast dich von Ingo abgewandt damit du in Ruhe gelassen wirst?“, fragte Manuel mit ernster Miene.
„Ja, das heißt es. Inzwischen tut es mir Leid. Ingo ist wirklich ein lieber Kerl“.
„Hättest du dir früher überlegen sollen“, fuhr Johanna empört auf.
„Ich würde es gerne wieder gutmachen“, fügte Iris hinzu, „ich weiß bloß nicht wie“.
„Glaubst du Ingo möchte noch dein Freund sein“, formulierte Manuel die Frage, die auch in Johannas Gesicht zu lesen war.
„Auf jeden Fall kann er jeden Freund gebrauchen“, erklärte Johanna nach einem kurzen Schweigen, „wir sollten morgen mit ihm darüber reden“.
„Das werden wir“, meinte Manuel, „Kopf hoch Iris. Vielleicht erzählst du uns noch etwas über deine Freundschaft mit Ingo. Wie war das mit den Gemeinheiten? Waren die übrigen Mitschüler zu dir auch so gemein wie zu Ingo? Habt ihr versucht euch dagegen zu wehren? Was habt ihr zusammen gemacht?“

Das großgewachsene Mädchen dachte nach. Zum ersten Mal erschien ein Lächeln auf ihrem sommersprossigen Gesicht. Offenbar waren die Gedanken an Ingo alles andere als schlecht.

Iris erzählte von gemeinsamen Nachmittagen, von gegenseitiger Unterstützung bei den Hausaufgaben und wie sie immer wieder den Bonbonladen besuchten, um sich jede Menge Süßigkeiten zu kaufen.
„Wir waren beinah wie Geschwister“, berichtete Iris, „der ganze Ärger begann als dieser Stefan in Ingos Klasse kam. Er ist eigentlich schon ein Jahr älter, musste die Klasse wiederholen, weil er wohl zu schlecht war. Ingo sollte ihm gelegentlich Nachhilfe geben, weil er einer der Besten war. Stefan passte das gar nicht. Da dieser grobe Kerl aber einer der beliebtesten Jungs an der Schule ist, schaffte er es fast die ganze Schule gegen Ingo aufzubringen“.
„Einschließlich deiner Person“, stellte Johanna fest.
„Ja. Die einen machen mit, weil sie Stefan so toll finden, die anderen eher aus Angst vor ihm, so wie ich. Wenn ich bloß nicht so ein Angsthase wäre. Ich würde gerne etwas wieder gut machen. Ich vermisse Ingo“.
„Ich denke, wir kriegen das wieder hin“, erklärte Manuel, „Johanna und ich werden morgen mit Ingo über dich sprechen, wenn du nichts dagegen hast. Mich würde doch interessieren, was er zu deiner Person erzählt und ich wette er vermisst dich auch“.
Johanna nickte zustimmend.

Hoch oben im Himmel beobachtete in diesem Moment der Engelrat im großen Herzen seine angehenden Schutzengel.
„Es läuft doch prima, findet ihr nicht“, sagte Matthias zu seinen Mitarbeitern, „wir haben die richtige Wahl getroffen“.
Der komplette Engelrat stimmte ihm zu.
„Johanna und Manuel werden alles in Ordnung bringen, davon bin ich überzeugt“, verkündete der Älteste voller Stolz.

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