Die Weihnachtsfee
von Dirk Hoffmann
Teil 1
Kathi beobachtete fasziniert die Schneeflocken, die vom Himmel herabfielen. Sie liebte es, wenn der Dezember alles weiß färbte. Die ganze Welt sah plötzlich aus wie ein riesiger Kuchen mit Puderzucker. Kathi drückte ihr Gesicht direkt ans Küchenfenster. Vergessen waren die Vanillekipferl und das Spritzgebäck. Obwohl sie ihrer Mutter unbedingt helfen wollte, konnte sie nur noch an den Schnee denken, als es zu schneien begann. Das war die Weihnachtsfee. Kathi dachte an die Geschichte, die Oma Edelgard ihr am Abend zuvor erzählt hatte.
ONsüd-Bild: Pokojski |
Der Dezember schlich sich mit eisiger Kälte in den Wald. Schneeflocken tanzten im Wind und hüllten die Landschaft in ein weißes Kleid. Für viele Waldbewohner hieß es nun, sich in den Winterschlaf zurückzuziehen. Es wurde still. Der Ruf einer Schneeeule klang durch die Luft. Auch die hereinbrechende Nacht konnte dem Schneefall keinen Einhalt gebieten. Es schneite sogar noch mehr. Die Schneeeule landete auf einem Ast, um abzuwarten, bis es aufhörte zu schneien und sie weiterfliegen konnte. Wachsam blickte sie sich um.
Das leise Rascheln zwischen den Bäumen entging ihr nicht. Hufgetrappel näherte sich. Die Eule bemerkte das Pferd, noch bevor es heran war. Aufgeregt trippelte sie auf ihrem Ast hin und her.
„Hallo Samira“, flüsterte eine liebliche Frauenstimme.
Das weiße Pferd tauchte zwischen den Bäumen auf. Neben ihm ging eine junge Frau in einem weißen Seidenkleid. Langes schwarzes Haar, das ihr beinah bis zur Hüfte reichte, wallte über ihre Schultern. Aus ihren Schulterblättern wuchsen ihr kaum sichtbare Flügel. Ihr makelloses Gesicht zierte ein freundliches Lächeln. Ein Bild, das nicht in die Landschaft passte.
„Es ist wieder soweit, Samira“, wandte sie sich an die Eule, „Dezember. Eiskalt und wunderschön. Die Weihnachtsfee ist bereit“.
Die Eule sah zu ihr herab.
Schneeflocken verfingen sich im Haar der Fee. Der Winter und der Wald huldigten ihr. Schließlich war sie es, die die Weihnacht in Wald brachte. Sie sorgte dafür, dass die Winterschläfer Ruhe und Frieden hatten, sorgte für die, die sich im Wald verirrten und für alle, die im Wald lebten. Die Menschen besuchte sie nur selten, da die meisten von ihnen nicht an sie glaubten.
Es geschah nicht oft, dass Menschen nach ihr riefen. Solch ein Ruf wurde ihr stets von Samira, der Schneeeule, überbracht. So wusste sie, als sie Samira sah, da gibt es wieder jemanden. Das freute sie.
„Mama, schau mal es schneit“, rief Kathi, „die Weihnachtsfee ist schon ganz nah“.
„Wer ist nah?“, fragte die Mutter verblüfft.
„Die Winterfee. Ich muss unbedingt nach draußen“.
Schon sauste Kathi los und stieß an der Tür mit ihrem Bruder Andreas zusammen.
„Kannst du nicht aufpassen, wohin du rennst“, schimpfte Andreas.
„Musst du auch gerade jetzt kommen“, antwortete Kathi, „ich muss hinaus zur Weihnachtsfee. Geh beiseite“.
„Weihnachtsfee? Du spinnst ja. Die gibt es nicht“, stellte der Bruder fest und griff in die Schüssel mit den duftenden Plätzchen, „probiere lieber Mamas leckere Plätzchen. Super Mama“.
„Wenigstens einer, der meine Mühe zu schätzten weiß“, entgegnete die Mutter.
Währenddessen lief Kathi weiter nach draußen. Sie streckte ihre Hände aus, um die in der Luft tanzenden Schneeflocken darin aufzufangen.
„Danke, liebe Weihnachtsfee“, flüsterte Kathi andächtig, „ich hoffe, ich darf dich einmal sehen“.
Die Schneeeule, die hoch oben in der Krone der großen entblätterten Eiche saß und sie beobachtete, bemerkte sie nicht.
„Ich werde es der Weihnachtsfee ausrichten“, sagte Samira, ohne dass Kathi es hören konnte.