Manuel, der kleine Schutzengel 

Eine Geschichte von

Dirk Hoffmann

8. Kapitel
Freunde für Ingo

Das neue Zuhause auf der Erde entpuppte sich als eine hübsche Wohnung, die sowohl für Johanna als auch für Manuel ein eigenes Zimmer bot. Die Wände waren überall weiß gestrichen. Die Einrichtung der Zimmer für die angehenden Schutzengel war im Wesentlichen gleich. Ein Bett, ein Kleiderschrank, ein großes Bücherregal und am Fenster ein Schreibtisch mit Drehstuhl. Nachdem Herr und Frau Himmelmann ihnen die topmoderne Küche und das Badezimmer vorgeführt hatten endete die Führung im Wohnzimmer.
„Setzt euch erst einmal aufs Sofa“, bat Günter Himmelmann, „wir werden uns jetzt ein wenig unterhalten“.
An der dem Sofa gegenüberliegenden Wand fiel Manuel eine riesige Vitrine auf, die eine wahre Heerschar von Engelsfiguren beherbergte. Ob das wohl eine Verbindung mit dem Himmel darstellte?
„Das ist nur Dekoration“, erklärte Julia Himmelmann, die Manuels fragenden Blick nicht übersah.
„Hat der Engelrat euch schon etwas über uns erzählt?“, fragte Günter Himmelmann.
„Nur, dass wir hier auf der Erde eine Familie haben werden“, antwortete Johanna wahrheitsgemäß.
„Ich hoffe, wir vertragen uns einigermaßen“, meinte Julia Himmelmann, „sagt bitte Mama und Papa zu uns“.
Günter Himmelmann tauschte seinen bisher ernsten Blick gegen ein Lächeln aus. „Ingo habt ihr ja bereits kennengelernt“, stellte er fest.
„Ich finde ihn wirklich nett“, antwortete Manuel.
„Warum sind in der Schule alle so gemein zu ihm?“, wollte Johanna wissen.
Julia Himmelmann erzählte, dass Ingo immer schon ein sehr stiller Junge war. Sein Vater verließ kurz nach seiner Geburt die Familie. Die Mutter zog ihn alleine auf. Möglicherweise hatte seine Seele dadurch etwas Schaden genommen.
„Ingo unterschied sich immer schon etwas von den übrigen Jungen in seiner Klasse. Er war und ist ein Träumer. Menschen ziehen solche die anders sind gerne auf, weil die sich meistens nicht dagegen wehren können“, schloss sie ihre Geschichte.
„Und wir sollen ihm helfen sich zu wehren?“, fragten Manuel und Johanna einstimmig.
„Nein, nicht so direkt, ihr sollt nur etwas Freude in sein Leben bringen“, erklärte Julia Himmelmann, „seid einfach für ihn da, versucht ihm gute Freunde zu sein, die braucht er dringend“.
„Wir werden uns Mühe geben“, sagte Manuel. Johanna nickte zustimmend.
„Wie wäre es mit einem Spiel zum Kennenlernen?“, fragte Günter Himmelmann.
Den Rest des Tages spielten alle zusammen ein lustiges Kartenspiel, das die Eltern Skip Bo nannten.
Kurz vor dem Zubettgehen waren sich Johanna und Manuel darüber einig, dass sie ihre Eltern mochten.
Auch am zweiten Schultag mussten die Schutzengelanwärter mitansehen, wie Ingo immer wieder gedemütigt wurde. Sie wussten nicht, was sie tun sollten. Zumindest wollten sie auf keinen Fall dabei mitmachen. In der Frühstückspause sprach Johanna Ingo noch einmal darauf an.
„Warum sind alle so fies zu dir, was hast du ihnen getan?“, wollte sie unbedingt von ihm erfahren.
Ingo blickte schweigend um sich.
„Wir würden dir gerne helfen“, ergänzte Manuel.
Aus Ingo war nichts herauszubringen. Im Anschluss an die nächsten zwei Schulstunden nahm Johanna das Angebot von ein paar Mädchen an, mit ihnen die Pause zu verbringen. Sie hoffte von den Mädchen in Erfahrung zu bringen, warum Ingo so unbeliebt war. Manuel sollte bei Ingo bleiben.
„Was haben eigentlich alle gegen Ingo?“, brachte Johanna bereits zu Beginn der Pause das Gespräch auf ihren Schützling.
Vier Mädchengesichter sahen sie überrascht an.
„Sieh dir einfach an wie er aussieht“, meinte die dürre, schwarzhaarige Angela, „er trägt so uncoole Klamotten“.
„Außerdem ist er ein Streber“, fügte ein blondgelocktes Mädchen namens Leonie hinzu.
Die Mädchen hatten nichts zu sagen, was wirklich ein schlechtes Licht auf Ingo warf. Johanna fand alles, was sie hörte, eher oberflächlich. Klar war lediglich, dass sie ihm seine guten Noten neideten. Erst nach Schulschluss, als sich Ingo bereits auf dem Heimweg befand, konnte sie Manuel ihre Ergebnisse mitteilen.
„Die Mädchen waren so oberflächlich“, berichtete Johanna, „sie schimpften über sein Aussehen, die Brote seiner Mutter, seine Noten, sein gutes Ansehen bei den Lehrern und noch mehr so oberflächliches Zeug. Ich glaube sie sind irgendwie neidisch auf ihn. Ich verstehe das alles nicht“.
„Das mit dem Neid kann tatsächlich sein“, erwiderte Manuel, „Ingo hat mir erzählt, dass Stefan, der Junge, der ihn gestern so rüde geschubst hat, immer die schlechtesten Tests schreibt. Aber rechtfertigt das so ein Verhalten?“.
„Keine Ahnung. Ich würde sagen nein“.
„Johanna, die Menschen sind schwierig“, seufzte Manuel.
„Aber ihr seid auf dem richtigen Weg“, mischte sich eine vertraute Stimme ein.
Plötzlich stand Matthias vor ihnen, in Jeanshose und Lederjacke. Johanna und Manuel erkannten ihn kaum wieder.
„Hallo Matthias“, grüßten beide freudig.
„Ich wollte nur einmal nach euch sehen. Es freut mich, dass ihr so rasch verstanden habt, worum es geht“, freute sich der Älteste, „macht nur weiter so“.
„Aber wir wissen doch noch gar nicht, was mit Ingo los ist“, wunderte sich Manuel.
„Ihr seid ihm schon Freunde geworden, nur darauf kommt es an“, sagte Matthias und schritt davon.
„Was war das denn jetzt?“, fragte Johanna verwirrt.
Manuel schüttelte den Kopf und wies mit dem Zeigefinger auf die Straße, wo das Auto der Eltern gerade auftauchte.
Am folgenden Tag blieb Johanna in der Pause bei Ingo, während Manuel mit den Jungs Fußball spielte. Manuel hörte von den Jungen ebenfalls nur Oberflächlichkeiten und Beschimpfungen. Schließlich beschlossen die Jungengel den Nachmittag mit Ingo zu verbringen, um unter sechs Augen mit ihm sprechen zu können.
„Ich zeige euch den besten Bonbonladen der Stadt“, schlug Ingo begeistert vor.
„Ja gerne“, stimmte Manuel, der gar nicht wusste was Ingo meinte, zu. Glücklicherweise konnten sie in der letzten Pause vom Sekretariat aus bei den Eltern anrufen und um Erlaubnis bitten. Alle Eltern waren einverstanden.

Der Bonbonladen lag nur zwei Straßen von der Schule entfernt. Sämtliche Wände waren mit Regalen bestückt, die mit jeder Menge großer Gläser voll bunter Naschereien gefüllt waren. Ingo klärte seine Begleiter fröhlich darüber auf, was es alles gab, ganz so als wüsste er, dass sie das alles nicht kannten.
„Die Bunten vorne bestehen aus Weingummi, das Schwarze links ist Lakritz, auf der rechten Seite gibt es Mausespeck, ansonsten gibt es auch noch Schokolade“.
Ingo strahlte über das ganze Gesicht. Der Kummer aus der Schule schien an diesem Ort keine Bedeutung zu haben.
„Probiert einmal die hier, die sind super lecker!“
Ingo zeigte auf ein Glas, das mit kleinen Engeln in bunten Farben gefüllt war.
„Mögt ihr?“, fragte der Händler und fischte zwei kleine Engel heraus.
„Da essen wir ja uns selber“, stieß Manuel hervor.
„Wie bitte?“, fragte Ingo verwundert.

„Manuel hält sich manchmal für einen Engel, ist so eine Spinnerei von ihm“, erklärte Johanna und war froh, dass niemand weiter nachfragte. Die bunten Engel schmeckten wirklich gut. Nachdem alle drei einen kleinen Beutel voll Bonbons gekauft hatten verließen sie den Bonbonladen. Johanna und Manuel mochten Ingo an diesem Tag nicht mehr an die Schule erinnern. Sie waren froh, ihn so glücklich zu sehen.

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