Manuel, der kleine Schutzengel
Eine Geschichte von
Dirk Hoffmann
7. Kapitel
Die Schule auf der Erde
Am nächsten Morgen ging alles sehr schnell. Manuel wurde direkt nach dem Frühstück in den großen Saal gebracht. Am Eingang traf er auf Johanna, die ihn mit einem fröhlichen Lächeln begrüßte und ihre
Arme um ihn schlang.
„Hallo ihr zwei“, ließ sich der ehrwürdige Matthias vernehmen, „ihr habt euch miteinander angefreundet wie ich sehe. Das ist sehr schön. Wir können also beginnen. Ist es euch recht, wenn ihr sofort in Ingos Klassenzimmer geht?“
Keiner der beiden kam dazu die Frage zu beantworten. Der Älteste sprach ohne Pause weiter. Offensichtlich durften Manuel und Johanna da nicht wirklich mitreden.
„Zuvor müsst ihr noch wissen, dass eure Flügel für die Menschen nicht sichtbar sein werden. Ihr dürft auch vor den Augen der Menschen nicht fliegen. Was fehlt jetzt noch? Ah ja, ihr werdet auf der Erde eine Familie haben. Eure Eltern holen euch nachmittags von der Schule ab und geben euch weitere Instruktionen. Ich glaube, das genügt fürs Erste“.
„Wir bleiben auf der Erde, bis unser Auftrag erledigt ist?“, wollte Johanna aufgeregt wissen.
„Ihr bleibt zumindest solange dort, bis wir euch in den Himmel rufen“, erklärte Matthias, „ich wünsche euch viel Erfolg“.
Der Älteste reckte beide Arme in die Höhe, flüsterte etwas, das die angehenden Schutzengel nicht verstanden und vor ihnen erschien eine kleine Wolke. Die Wolke wuchs auf die Körpergröße von Johanna und Manuel heran und verschlang sie. Als die Wolke sich wieder auflöste fanden sich die beiden in dem Schulraum wieder, den sie am Vortag zuletzt im großen Herz gesehen hatten.
„Wir bekommen heute zwei neue Mitschüler“, verkündete eine freundliche Frauenstimme, „begrüßt Johanna und Manuel“.
„Hallo“, grüßte die ganze Klasse im Chor.
Manuel wunderte sich, dass die Lehrerin ihre Namen bereits kannte. Matthias musste dafür gesorgt haben. Nach einer kurzen persönlichen Vorstellung wies die Lehrerin, die sich als Frau Börnke vorstellte, Manuel an, sich auf den freien Stuhl neben Ingo zu setzen. Johanna nahm direkt hinter ihm Platz.
„Hi“, flüsterte Ingo.
„Unterhalten könnt ihr euch später in der Pause noch“, mahnte Frau Börnke.
In den folgenden zwei Stunden bestand der Unterricht aus Mathematik. Der Lehrstoff lautete Geometrie. Manuel fiel das gar nicht leicht. Auch Johanna tat sich schwer. Auf der Engelschule wurde so etwas nur in speziellen Fällen gelehrt. Gerade in dem Moment als Manuel sich ein Ende dieser Qual wünschte, drang ein lauter Gong an seine Ohren.
„Das war der Pausengong“, erklärte Ingo fröhlich.
„Ach so“, antwortete Manuel, der sich heftig erschrocken hatte.
„Hast du ein Pausenbrot dabei?“, fragte Ingo.
Manuel schüttelte den Kopf und richtete seinen Blick auf Johanna.
„Ich auch nicht“, sagte diese achselzuckend.
„Macht nichts, ihr könnt von mir etwas abhaben. Mama packt mir sowieso immer viel zu viel ein“, meinte Ingo freudig.
„Das würde ich nicht annehmen“, rief ein Junge mit kurzen, blonden Haaren, „da sind bestimmt sein Popel drauf. Der popelt nämlich den ganzen Tag in der Nase“.
Der Rest der Klasse rannte lachend an den dreien vorbei. Einige Mitschüler schubsten Ingo von hinten.
„Was soll denn das?“, empörte sich Johanna.
Ingo senkte traurig den Kopf. Johanna und Manuel sahen einander fragend an.
„Warum sind die so gemein zu dir?“, fragte Manuel schließlich.
Ingo, der eben noch so fröhlich wirkte, war plötzlich ganz still und in sich gekehrt.
„Lasst uns das Pausenbrot essen“, schlug Johanna vor, „das mit den Popeln stimmt ja wohl nicht“.
Ingo hob vorsichtig den Kopf und packte seine Brotdose aus, die wirklich randvoll war.
„Nein, bestimmt nicht“, erklärte er, „Mama gibt mir immer so viel mit, damit ich es teilen kann. Sie meint, das hilft mir Freunde zu finden“.
„Hast du denn keine Freunde?“, fragte Manuel während er überlegte, ob das der Auftrag sein konnte. Sollten sie Ingo helfen Freunde zu finden?
„Hier in der Schule kann mich keiner leiden“, klagte Ingo.
„Warum denn nicht?“, wollte Johanna wissen.
Ingo mochte nichts mehr sagen. Schweigsam aß er eines seiner Käsebrote. Johanna und Manuel folgten seinem Beispiel.
„Das schmeckt gut“, stellte Manuel schmatzend fest, um Ingo noch ein kleines Lächeln zu entlocken.
Wenig später beendete ein weiterer Gong die Pause. Es folgten zwei Stunden Künstlerische Gestaltung. Am Lehrerpult saß nun ein kleiner Mann mit einem dünnen Oberlippenbart und einer Baskenmütze auf dem Kopf. Er wirkte sehr freundlich.
„Das ist Herr Renzi“, flüsterte Ingo.
„Guten Morgen alle miteinander“, grüßte Herr Renzi.
„Guten Morgen“, erwiderten die Schüler.
„Was sehe ich da? Haben wir etwa neue Schüler?“
Herr Renzi erhob sich von seinem Stuhl und trat auf Manuel und Johanna zu.
„Wer seid denn ihr beiden?“, fragte er.
„Ich bin Manuel“, stellte Manuel sich vor.
„Ich bin Johanna“, fügte Johanna hinzu.
„Herzlich willkommen. Habt ihr schon einmal etwas gemalt?“
„Ja, Wolkenbilder“, fiel Manuel ein.
„Na das ist doch schon etwas. Wir befassen uns mit der Schönheit der Bäume“, erklärte Herr Renzi, „seht einmal auf Ingos Blatt. Das ist ein lebendiger Baum. Diese herrliche Vielfalt der Grüntöne. Das ist wirklich gekonnt“.
„Streber“, rief fast die komplette Klasse.
„Ruhe“, gab der Kunstlehrer in barschem Ton zurück, „das Bild ist einfach gut, wie übrigens viele von euch auch. Bitte etwas mehr Respekt“.
Den ganzen Schultag lang musste Ingo Hohn und Spott über sich ergehen lassen. Wann immer er etwas sagte wurde er ausgelacht, verspottet, beleidigt oder durch die Gegend geschubst. Johanna und Manuel litten richtig mit.
Nach Schulschluss standen die angehenden Schutzengel vor der Schule und warteten auf die ihnen zugeteilten Eltern. Ingo war bereits von seiner Mutter abgeholt worden. Bevor sie abfuhren stellte er Johanna und Manuel als seine neuen Freunde vor. Die Mutter war darüber sehr glücklich.
Johanna sah stirnrunzelnd auf das Schulgebäude.
„Was hat Ingo den anderen nur getan? Ich verstehe ihr Verhalten nicht“.
„Ich auch nicht, aber ich glaube wir müssen genau das herausfinden“, vermutete Manuel, „unsere Aufgabe besteht darin, diesen Jungen von seinen Sorgen zu befreien, ihn wieder glücklich zu machen“.
„Das wird nicht einfach“, seufzte Johanna.
„Seid ihr Manuel und Johanna?“, unterbrach eine freundliche Frauenstimme ihre Gedanken, „dann steigt bitte ein. Wir sind eure Eltern“.