Manuel, der kleine Schutzengel

Eine Geschichte von
Dirk Hoffmann

6. Kapitel
Die Aufgabe

Seufzend blätterte Ingo in seinem Deutschbuch herum. Warum musste er bloß schon wieder so viele Hausaufgaben auferlegt bekommen? Die sechs Unterrichtsstunden waren doch wirklich Schinderei genug. Und dann auch noch Johann Wolfgang von Goethe! Dieser Erlkönig war so unheimlich. Innerhalb einer Woche sollte er dieses ewig lange Gedicht auswendig können. „Frau Börnke spinnt“, schimpfte der Junge und klappte das Buch zu. Mit geschlossen Augen begann Ingo zu zitieren:

Der Erlkönig
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind…

Weiter kam er nicht, ohne nachzuschlagen.
„Können wir ihm nicht jetzt schon helfen?“, überlegte Manuel laut, während er und Johanna Ingos trauriges Gesicht im Herz betrachteten.
„Versuchen wir es“, rief Johanna und zitierte den nächsten Satz. Ingo starrte immer noch verzweifelt auf sein Deutschbuch.
„So einfach ist es wohl nicht“, stellte Manuel fest, aber den Versuch war es wert“.
Im Herz konnten sie derweil beobachten, wie Ingo das Buch aufschlug und den Erlkönig laut vorlas.
„Vielleicht müssen wir es zu zweit machen“, schlug Johanna vor, „schließlich handelt es sich um einen Gemeinschaftsauftrag“.
„Gute Idee“, stimmte Manuel sofort zu.
Sie warteten, ob Ingo es ein weiteres Mal versuchte. Dazu kam es jedoch nicht mehr.
Die Zimmertür öffnete sich, und eine Frau trat ein. Die zwei Engel sahen schweigsam auf das Herz. Neugierig beobachten sie, was nun geschehen würde.
„Na mein Sohn, wie kommst du zurecht?“, fragte sie und strich Ingo mit der Hand durchs Haar.
„Mama, ich bekomme diesen Erlkönig nicht in den Kopf“, schluchzte Ingo.
„Ihr beschäftigt euch schon mit Goethe? Für den Erlkönig habe ich auch lange gebraucht, der ist nicht leicht. Soll ich einmal probieren, ob ich das Gedicht noch aufsagen kann?“
„Du musstest das auch lernen?“
Ingo sah seine Mutter ungläubig an.
„Da staunst du“, sagte seine Mutter und zitierte alles acht Strophen des Erlkönigs.
„Wie lange hast du noch Zeit dafür?“ erkundigte sie sich schließlich.
„Bis zur Deutschstunde am kommenden Dienstag“.
„Da hast du ja noch eine ganze Woche“.
„Ja, außerdem reicht auch schon die Hälfte, die zweite Hälfte ist freiwillig“, erklärte Ingo.
„Wie viel kannst du schon?“
„Eine halbe Strophe“.
„Das ist doch schon ein Anfang“, lobte die Mutter und nahm Ingo in den Arm.
Oben im Himmel suchten die beiden Engel weiterhin nach einem Weg, dem Jungen zu helfen.
„Womöglich geht das erst, wenn wir unten sind“, vermutete Johanna schließlich. Manuel nickte zustimmend. Im Herz änderte sich plötzlich das Bild. Das Zimmer verschwand. Ein großes weißes Gebäude mit schwarzem Dach erschien an seiner Stelle. Wieder rückte ein Fenster so nah heran, dass die Engel ins Zimmer sehen konnten. In diesem Raum standen viele Tische, an denen Kinder saßen. Es erinnerte Manuel an die Engelschule. Ingo saß ganz vorne.
„Ist das die Schule?“, fragte Manuel.
„Ja, das ist die Schule“, bejahte Matthias, „dort beginnt euer Einsatz. Ruht euch jetzt erst einmal aus, der Tag war lang. Morgen früh geht es los“.
Matthias entfernte das große Herz persönlich aus dem großen Saal.
Manuel blickte auf die Stelle an der das Herz gestanden hatte und seufzte.

„Warst du schon mal im Wolkencafé?“, wollte Johanna wissen.
„Ja sicher“, antwortete Manuel.
„Gehen wir zusammen hin? Wer weiß, wann wir da wieder zu kommen“.
Manuel musste nicht lange überredet werden.

Das Wolkencafé war bei allen Engeln beliebt. Engel aller Altersklassen suchten diesen Ort auf, um sich zu entspannen und um mit anderen Engeln ins Gespräch zu kommen. Johanna und Manuel ließen sich auf einer Wolke in der hinteren Ecke nieder, um noch einmal alles, was sie erlebt hatten zu überdenken.
„Ich hoffe wir schaffen das wirklich“, hörte Manuel sich sagen.
„Das werden wir“, behauptete Johanna in einem sehr überzeugenden Tonfall.
„Hallo ihr zwei“, mischte sich ein weiterer Engel ins Gespräch, „was kann ich für euch tun?“
„Zwei heiße Wolkenschokoladen“, rief Johanna, die sofort erkannte, dass es sich um den Wirt handelte. Manuel nickte zustimmend.
Den Rest des Abends sprachen sie nicht mehr von Ingo und dem Auftrag. Sie erzählten sich von ihren Erlebnissen in der Engelschule. Als das Café schloss kam die Zeit sich zu trennen.
„Bis Morgen“, verabschiedete sich Johanna, „wir werden unser Bestes geben“.
„Ja, das sehe ich auch so“, bekräftigte Manuel.

Wenig später lag Manuel auf seiner Schlafwolke. Mittlerweile freute er sich sogar schon auf seine Aufgabe. Er mochte Johanna. Auf einer Menschenschule konnte es ja nicht so anders sein als auf der Engelschule, dachte er zuletzt noch, ehe er in einen tiefen Schlaf fiel.

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