Manuel, der kleine Schutzengel

Eine Geschichte von
Dirk Hoffmann

5. Kapitel
Warten auf die Aufgabe


Die große Halle füllte sich mit Stille als der Ältestenrat fort war. Die beiden Engel standen reglos da, jeder in seiner eigenen Gedankenwelt gefangen. Über allem schwebte die Frage: Was dachte sich der Ältestenrat?
Manuel brach als erster das Schweigen.
„Johanna, bist du auch ein Schutzengel?“, erkundigte er sich vorsichtig.
„Das weiß ich nicht so genau, ich glaube schon. Allerdings war ich bislang nur für die Verteilung der Aufträge zuständig. Ich schicke die Schutzengel zu ihren Schützlingen, aber ich habe noch nie selbst einen Schützling zugewiesen bekommen“, erklärte die Hüterin des Herzens unsicher, „jedenfalls bis heute nicht“.
„Wie lange machst du das denn schon?“, wollte Manuel als nächstes wissen.
Johanna blickte auf das große Herz.
„Um ehrlich zu sein, erst seit einigen Wochen. Ich komme mit diesem Herz in die Halle und verkünde, wer einen Schutzengel benötigt. Das Herz zeigt den Ort und das Wesen, um welches es geht. Wenn der neue Schutzengel weiß, was er zu tun hat, ist meine Aufgabe erledigt“.
„Dann kannst du mir doch schon etwas sagen. Also, wen sollen wir beschützen?“
Manuel fand allmählich Gefallen an der Idee nicht auf sich allein gestellt zu sein.
„Der Rat muss dabei sein“, entschied Johanna, so musste sie nicht preisgeben, dass sie auch nicht mehr wusste als er, „das ist so Sitte. Magst du mir etwas von dir erzählen oder über das, was du auf der Erde erlebt hast?“
„Du kannst dir nicht vorstellen, was ich dachte als ich zum ersten Mal auf die Erde sah“, erzählte Manuel mit gesenktem Kopf.
„Was hast du denn gedacht?“
„Na ja, wie ich so auf die Erde hinuntersah, glaubte ich, dass ich alle Menschen beschützen muss, die dort herumlaufen“.
„Alle Menschen“, fuhr Johanna auf, „dass geht doch überhaupt nicht!“
„Das hat mein Großvater mir dann auch gesagt. Danach war ich ganz schön erleichtert. Aber jetzt bin ich schon wieder besorgt, weil es plötzlich so dringend ist“.
„Das bin ich auch. Ich muss dir etwas gestehen. Ich könnte dir gar nichts sagen, ich weiß nämlich ebenso wenig wie du. Tut mir leid“.
Zwei besorgte Gesichter sahen einander schweigsam an.
„Ich bin froh“, brach Manuel schließlich das Schweigen, „dass ich bei meinem ersten Einsatz nicht allein sein werde“.
Johanna wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als der Ältestenrat in den Saal zurückkam. Sie legte Manuel die Hand auf die Schulter und nickte ihm zu, um ihm zu sagen, dass sie ebenso dachte. Matthias ergriff inzwischen das Wort.
„Johanna, Manuel“, sprach der Älteste, „ich hoffe ihr habt die Zeit gut genutzt“.
„Ja, das haben wir“, antworteten die jungen Engel einstimmig.
„Sehr schön, jetzt müsst ihr ganz aufmerksam sein, wir werden ins Herz sehen“, verkündete Matthias.

Alle Anwesenden richteten ihre Augen auf das große Herz, das darauf wartete seinen Dienst zu verrichten. Matthias gebot allen still zu sein und drückte seine rechte Hand ans Herz. In der Mitte flitzten nun viele kleine Herzen umher. Nach nur wenigen Sekunden waren sie verschwunden. Häuser erschienen. Langsam rückte eines dieser Häuser in den Vordergrund, immer näher rückte es heran, bis man direkt in eines der Fenster im Obergeschoss hineinsehen konnte. Schließlich wurde der Blick ins Innere des Zimmers gezogen.
„Gleich werdet ihr euren Schützling sehen“, erklärte Matthias.
Ein Kleiderschrank war zu sehen, ein einfaches Bett, einige Kisten mit Spielzeug und ein Schreibtisch an dem ein Junge saß und in einem Buch las.
„Das ist Ingo“, erklärte Matthias weiter. Mit einem erneuten Druck seiner Hand fror das Bild im Herz ein.
„Er braucht uns so dringend“, platzte Manuel heraus.
„Ja genau“, stimmte Matthias ihm zu, „er weiß es zwar nicht, aber er wartet auf euch“.
„Was sollen wir denn so dringendes für ihn tun?“, fragte Manuel aufgeregt.
„Das wird er euch, wenn es soweit ist, selbst sagen. Als erstes lernt ihr ihn kennen“.
„Aber wie?“, wollte nun Johanna wissen.
„Ihr werdet mit ihm zur Schule gehen“.
„Auf eine Menschenschule, ehrwürdiger Matthias“, fragte Manuel, „geht denn das?“
„Ja, es muss“, antwortete der Älteste, „er wird euch für Menschen halten. Ihr dürft ihm nur nicht sofort verraten, dass ihr Engel seid. Ihr seid ab Morgen die neuen Schüler in seiner Klasse. Alles Weitere besprechen wir, wenn wir euch von Zeit zu Zeit kontaktieren. Wir verlassen uns auf euch. Das Herz wird euch noch die Schule zeigen, die Mitschüler und alles, was ihr sonst noch wissen müsst. Das wäre es für heute“.
„Wie erfahren wir, dass ihr mit uns sprechen wollt?“, interessierte sich Johanna noch“.
„Das werdet ihr merken, wenn wir es wünschen“, erklärte Matthias und verließ ein weiteres Mal mit dem Rat die Halle.
Manuel und Johanna tauschten einen verwirrten Blick. Sie wussten jetzt um wen es ging, aber der Rest blieb ein Rätsel.
„Johanna“, sprach Manuel feierlich, „ich glaube gemeinsam schaffen wir das“.
„Wenn du das glaubst, glaube ich es auch“, stimmt Johanna ihm zu und hielt ihm die Hand hin. Manuel schlug ein. Ich wusste es“, flüsterte Matthias, der von den beiden unbemerkt noch einmal hereingekommen war, um sie zu beobachten.

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